Liebe Fremde. Du kennst mich nicht, ich kenne dich nicht. Wir haben uns an einem schönen, sonnigen Nachmittag zwischen Frankfurt und Berlin ein Zugabteil geteilt und uns vier Stunden gegenüber gesessen, ohne uns kennenzulernen. Das ist schon mehr als ein Jahr her.
Ich bin in das Abteil gekommen, in dem du alleine gesessen hast und habe dich gefragt, ob da noch ein Platz für mich frei ist. Du hast mich angesehen, kurz genickt, ein leises Ja gemurmelt und dann schnell wieder in dein Buch geschaut. Ich habe mein Gepäck in der Gepäckablage verstaut, meinen Mantel ausgezogen, meinen Laptop aus meinem Rucksack geholt und aufgeklappt. Ich wollte die Zeit zum Arbeiten nutzen. Ich kann mich im Zug gut konzentrieren.
Hin und wieder habe ich über den Bildschirm geblickt, um die vorbeiziehende Landschaft auf mich wirken zu lassen und manchmal habe ich dich heimlich beobachtet, wenn ich über meinen nächsten Satz nachgedacht habe. Du wirktest sehr angespannt. Manchmal trafen sich unsere Blicke für eine Sekunde; eine flüchtige Begegnung in einer genauso flüchtigen Umgebung.
Ich deutete deinen Ausdruck und deine Körperspannung als Stress. Vielleicht hattest du einen Zug verpasst, vielleicht hattest du auch einfach einen schlechten Tag.
Ich ließ dich in Ruhe und du hast mich in Ruhe gelassen. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen. Stör du mich nicht, dann stör ich dich auch nicht. Ich kannte dich nicht, wusste nicht, wer du bist. Ich weiß es heute noch nicht. Aber ich erinnere mich gut an dich.
Irgendwann hat dein Telefon geklingelt. Du bist dran gegangen, hast ganz leise Hallo gesagt, fast so als wolltest du nicht, dass ich höre, wie du redest. Du kanntest die Person, die dich angerufen hat. Du hast ihr eine Weile einfach nur zugehört.
Ich wollte nicht neugierig sein, aber ich konnte nicht anders. Ich habe dich beobachtet und versucht, deine Mimik zu deuten. Es schien, als hättest du auf diesen Anruf gewartet. Ich sah, wie deine Mundwinkel sich in Zeitlupe nach oben zogen und deine Augen anfingen zu lachen. Jegliche Anspannung war mit einem Mal von dir abgefallen.
Du hast erleichtert gelacht, gekichert vielmehr. In der Stille unseres Zugabteils tönte dein Lachen noch viel lauter, über die Geräusche des Zugs hinweg. Auf einmal wirktest du wie jemand, der seine Freude kaum zügeln konnte.
Oder war es Erleichterung?
Ich habe mich mit dir gefreut. Habe dich angesehen und dich angelächelt. Du hast zurück gelacht. Dann bist du aufgestanden und aus dem Abteil gehüpft. Du bist nicht wirklich gehüpft, aber dein Gang war so leicht und federnd, dass es aussah, als würdest du tanzen. Ich glaube, du bist einmal durch den ganzen Zug gerannt, während dein Herz sich vor Freude überschlug.
Als du zurück kamst, war ich schon wieder in meine Arbeit vertieft. Ich schaute hoch, als du zur Abteiltür herein kamst. Du sahst so erleichtert aus. Dann hast du dich hingesetzt und dein Buch in deine Reisetasche gepackt. Du hast im Abteil umher geblickt, dann kurz zu mir und dann lange aus dem Fenster. Du sahst aus, als würdest du deine Freude gerne mit jemandem teilen. Als würdest du nach Worten suchen, um all das zu erklären, was gerade in dir vorging.
Ich wollte dich fragen, was dich so glücklich machte und dir sagen, dass ich mich für dich freute. Denn das tat ich wirklich.
Doch dann habe ich dir nur noch einmal zugelächelt und nichts gesagt. Und du lachtest mir zu und freutest dich so sehr, dass auch ich dein Glück irgendwie fassen konnte.
Als du ausgestiegen bist, hast du mir einen wunderbaren Tag, nein quatsch, eine wunderbare Woche, ein wunderbares Jahr gewünscht. Ich wünschte dir dasselbe.
Die Geschichte, die du zu erzählen hattet, kenne ich bis heute nicht. Manchmal, wenn ich in einem Zug sitze, denke ich an dich und frage ich mich, was dich so glücklich gemacht hat.
Dieser Text ist schon lange in meinem Kopf herumgegeistert. Fast ein Jahr, um genau zu sein. Ariane von Heldenwetter hat mich nun dazu gebracht, ihn endlich aufzuschreiben. Er ist ein Beitrag zu ihrer Blogparade: Reisebegegnungen.
Foto: Camila Rubio Varón, Unsplash
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